IST DER HUND EIN RUDELTIER?

12. März 2022: Uber mögliche soziale Systeme der Kaniden.

Um die Komplexität hinter diesem Titel zu verstehen, hilft es, sich zunächst einmal über die Definition „Rudel“ klar zu werden.

Die verschiedenen Kaniden zeigen uns eine grosse Vielfalt an möglichen sozialen Systemen: sie leben als Einzelgänger, zu zweit oder in Gruppen verschiedenster Grössen.

Wölfe, ein naher Verwandter unserer Haushunde (NICHT aber der Urvater), ziehen als Elternpaar mit den Jungwölfen vom vorigen Jahr Welpen auf. Ein solch natürliches Rudel existiert innerartlich und besteht aus miteinander verwandten Tieren. Es sind Familienverbände, wo ein monogam lebendes Elternpaar für Nachwuchs, Schutz und die Befriedigung der Bedürfnisse, sorgen.

Dass Mensch und Hund biologisch kein Rudel darstellen, ist klar. Wir müssen also nicht „Rudelführer“ sein und dominant-verhaltenskreative Ideen, wie „auf den Rücken legen“, „als erster durch die Tür gehen“ oder einen „Schnauzengriff“ umsetzen: die Dominanztheorie ist glücklicherweise wiederlegt, auch wenn leider viele Hundetrainer immer noch mit dieser Grundlage arbeiten.  

Im Gegensatz zu den Wölfen eines natürlichen Rudels, leben freilebende Hunde / Strassenhunde in der Nähe der Menschen und ernähren sich eher selten von der Jagd, sondern von unseren Essensresten. Futter ist permanent verfügbar, was die Notwendigkeit einer Kooperation bei der Nahrungssuche mit einem Artgenossen in der Regel unnötig macht. Diese Hunde sind also nicht mehr auf eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit eines Artgenossen angewiesen, um an Futter zu kommen. Da die Vorhersagbarkeit von Futterquellen und die Abhängigkeit zum Menschen gross ist, steigt auch der Wettstreit um Futterressourcen mit Artgenossen. Die Veränderung der Futterökologie hat das innerartliche Verhalten also massgeblich verändert. Dennoch muss diese Art der sozialen Gruppenstruktur Vorteile für das einzelne Individuum mit sich bringen: kooperiert wird zum Beispiel beim gemeinsamen Verteidigen von Futterplätzen gegenüber einer anderen Hundegruppe (Studie Bonanni et al., 2011) oder dem sozialen Lernen (Social Facilitaion), durch das Aufrechterhalten der Nähe zu einem älteren Tier oder auch bei der Jungtieraufzucht. Sicher ist, dass das soziale Verhalten von Strassenhunden sehr variabel ist und durch das Nahrungsangebot, das Verhältnis zum ortsansässigen Menschen, der individuellen Vorbliebe des Tieres und auch saisonal, durch die Fortpflanzungszeiten von Hündinnen, beeinflusst werden. Eine sehr spannende Studie (Majumder et al., 2014) aus Indien zeigt, dass die Gruppenzusammensetzung von Strassenhunden, nicht zufällig ist, sondern dass sich Individuen gezielt zusammentun, die durch verwandtschaftliche Verhältnisse verbunden sind. Zudem vermutet Bonanni in seiner Studie, „dass Hunde eher in der Lage sind, stabile Gemeinschaften zu bilden, wenn der Einfluss des Menschen abnimmt und weniger Futter zur Verfügung steht. Je mehr Beziehung zum Menschen, desto kleiner die Gruppe und weniger soziales Gruppenleben ist zu beobachten“.

Fakt ist: Hunde sind sehr flexibel und in der Lage, unter geeigneten ökologischen Bedingungen, untereinander Gruppen zu bilden. Solche Gruppen sind durch lineare, altersbedingte Hierarchien und stabile Bindungen untereinander gekennzeichnet. Die Domestikation hat die soziale Toleranz nicht reduziert, Hunde leben ähnlich kooperativ, jedoch nicht vergleichbar wie Wölfe, zusammen. Was die soziale Toleranz unter Artgenossen jedoch stark beeinflusst, ist wie nahe oder intensiv die Beziehung zum Menschen ist.

Nun, ist nun unser Haushund „Canis lupus familiaris“ ein Rudeltier oder nicht? Fest steht, dass Hunde sehr flexibel sind, was das Zusammenleben in Gruppen angeht und sich immer wieder neu anpassen. Hunde gelten als hochsoziale Tiere, soziale Eigenschaften sind in den Erbanlagen vorhanden.

Unser Haushund ist kein „Rudeltier“, so wie es teilweise wilde Kaniden sind. Seit der züchterischen Selektion und die dazugehörige Nähe zum Menschen, war er es nie. Dem Hund geht es gut, wenn er als alleiniger Kanide in einem Menschenhaushalt lebt. Ganz oft zeigen Hunde deutlich, dass die Nähe eines Artgenossen stressende Faktoren mit sich bringt. Man kann distanzgebende Verhalten oder Stresssignale deutlich beobachten, quantifizieren und die darauf schliessenden Antezedenzien erkennen.

Lebt der Hund nahe beim Menschen, so wie es bei uns üblich ist, braucht er keine „Zweckgemeinschaft Strassenhund“ und ich sehe ganz oft, dass Hunde den Sozialpartner „Mensch“ bevorzugen. Dennoch gibt es Artgenossen, die sich in einem Mehrhundehaushalt wohl fühlen – hier kommt es auf das Individuum darauf an: was macht es aus? Was hat es bisher in diesem Kontext gelernt?

Um meine liebe Ausbilderin Dr. Ute Blaschke-Berthold zu zitieren: „Einzelhundehaltung ist eine wunderbare Sache“. Für mich ist sie ist so wunderbar, weil sie (auch) für den Menschen weniger belastend ist. Es muss weniger Management betrieben werden, weniger Massnahmen durchdacht und ausgeführt werden. Der Fokus liegt auf dem einen Tier, auf seinen Bedürfnissen und der Befriedigung dieser Anliegen.

Und genau in diesem Erkennen und Befriedigen der Bedürfnisse unseres vierbeinigen Freundes liegt die Magie. Unser Haushund ist eine Erfolgsgeschichte: flexibel und anpassungsfähig lebt er nahe mit uns Menschen in allen Lebensformen. Geben wir ihm etwas zurück: zum Beispiel Mitspracherecht, lassen wir ihn sein Potenzial entfalten, sich entwickeln und gemeinsam mit uns Menschen die Welt entdecken, mit Spiel, sozialer Interaktion und entspannten Lernsituationen, immer mit Fokus auf Wohlbefinden an beiden Enden der Leine.

Ich wünsche euch ganz viel Zeit, um mit euren Hunden oder eurem Hund zu sein,

herzlich, Fränzi.

Quelle & zum Nachlesen: Hunde Forschung aktuell, Udo Gansloser, Kate Kitchenham / Hunde, Rey & Lorna Coppinger

By Fränzi